Autorin: Whitesekhmet
Das Versprechen
Joana wuchtete den unhandlichen, aber auch gut gefüllten Kohlekarren durch den dunklen Minenschacht. Sie musste sich beeilen. Viel Zeit blieb ihr nicht bevor, sie Ärger bekommen würde. Die anderen Ingenieure, die an den Aufträgen ihrer Mutter arbeiteten, drohten schon sich zu beschweren, da sie ihre Aufgaben nicht erfüllte. Sie packte die Griffe fest und stieß den Karren vor sich her. Der enge Schacht machte es schwierig, und ihr Atem ging schwer von der Anstrengung. Der Raum wurde immer enger, und die Gefahr, dass der Karren zwischen den Wänden feststecken könnte, wuchs mit jedem Meter.
Sie hatte extra den kürzesten Weg von dem Kohlelager zu ihrem Arbeitsbereich genommen und hoffte innig, dass niemand ihren Arbeitsplatz inspizieren würde. Natürlich arbeitete sie. Sogar bei Tag und bei Nacht, aber nicht immer an den Dingen, die sich ihre Mutter wünscht . Ihre Mutter war eine strenge Geschäftsfrau, und alles, woran sie arbeitete, die Menschen, das Erz, die Minen, ja der ganze Ort gehörte ihr und Joana war ein wichtiger Bestandteil davon. Als junges Mädchen wurde sie bereits eingeweiht, und nun war sie inmitten einer Ausbildung zur Ingenieurin und ihre Prüfungen standen kurz bevor. Doch vorher wollte sie ein Versprechen einhalten, welches sie vor einigen Monaten gab.
Mit voller Wucht stemmte sie den Karren um die letzte Kurve, durch den letzten Abschnitt und erreichte endlich die schwere Metalltür, die zwischen ihr und ihrem Arbeitsplatz lag. Sie stellte den Karren ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Herz schlug wild und sie rang nach Luft. Luft, die hier unten, tief unter der Erde, ein Luxusgut war. Kohle und Eisen gab es hier hingegen wie Sand am Meer. Sie konnte schon nicht mehr zählen, wie oft sie diese Rohstoffe bereits aus den Minen herausgeholt und verarbeitet hatte. Selbst das jetzige Hindernis stammte aus diesem Material. Joana öffnete die große Metalltür mithilfe eines dunkel angelaufenes Drehrades an der Stahlpforte und drückte sie dann nach innen. Soweit, dass sie und der Karren durch den Spalt passten. Eine Passage, die ihr dennoch leicht fiel. So konnte der Karren nicht zu sehr umschwenken und rammte höchstens den Stahlrahmen. Die sich darauf befindenden Schrammen sprachen Bände. Sie schob den Karren durch die Pforte und stellte sie ab. Die Tür darf niemals lange offen stehen. Eine Information, die sich nicht nur in Form von Schildern überall im Untergrund an den Wänden befand, wo es eine Tür gab. Joana hatte sich die Gesetze bereits sehr früh eingeprägt.
Die Tür war nun verriegelt. Joana stand wieder vor dem Karren und nahm beide Griffe in die Hand. Doch bevor sie weiterging, verschaffte sie sich einen kurzen Überblick. Die riesige Höhle, die alle eher als Halle bezeichneten, war eine der größten im Untergrund und hatte Platz für hunderte Arbeitsplätze. Alles was man hörte waren Geräusche von aufschlagendem Metall, langgezogenes Zischen, Hämmern und ein Rauschen, welches stets im Hintergrund herrschte. Die Ingenieure, ihre Kollegen, und die Maschinen. Öfen die brannten und die Temperatur gerade noch so erträglich machten. Hunderte Rohrsysteme, die den Dampf transportierten, kombiniert mit Dampfmaschinen, die den größten Teil der Halle mit Elektrizität versorgten. Alles arbeitete und Joana wollte keinen anderen Anschein erwecken.
Doch man hatte sie bemerkt. Bereits, als sie durch die Tür kam.
Wieder fielen die Blicke auf sie, die sie zu ignorieren versuchte. Einfach weiter und zum Hauptofen. Sie wollte keine weitere Aufmerksamkeit erregen. Es war ein langer, unangenehmer Weg, bis sie den Bereich erreichte und sich hinter der monströsen Metallkonstruktion versteckte. Der Hauptofen sollte einige Maschinen mit Dampf antreiben, Maschinen an und mit denen sie hier arbeiteten, aber auch welche, die die riesige Höhle ausleuchteten. Die Dampfmaschine, die mit diesem Ofen verbunden war, war nicht nur gigantisch, sie machte auch einen enormen Lärm, vor dem niemand geschützt war. Auch Joana nicht. Es brauchte oft Tage, bis sie das Rauschen in ihren Ohren los wurde. Nun war die Maschine jedoch abgeschaltet und sie hatte die Aufgabe, das Ungetüm wieder in Betrieb zu nehmen. Gewartet und gereinigt hatte sie sie schon. Selbst die unzähligen Kupferseile, die zu den Maschinen und den Lampen an der Decke führten, sogar weit darüber hinaus, ist sie alle abgelaufen, um sie nach möglichen Schäden zu untersuchen. Trotz ihrer Eile blieb sie präzise und fokussiert in jedem ihrer Schritte.
Im Vergleich zu den großgewachsenen und muskulösen Minenarbeitern war sie kleiner, schlank und wendig, was ihr ermöglichte, sich besser durch die engen Lücken und Maschinen hindurchzuschlängeln.
Die rot aufblinkende Kontrollleuchte des Hauptofens verriet ihr, dass der Betrieb nun auf den Reserveofen daneben umgeleitet wurde. Dieser versorgte die restlichen, daran verbundenen Maschinen solange mit Dampf, bis der Hauptofen gewartet und gefüllt wurde. Der Hauptofen war immer am Brennen, selbst jetzt noch. Allerdings war er mit einer gewissen Mechanik ausgestattet, sodass die Arbeit an ihm nicht zu gefährlich wurde. Joana hatte diese Konstruktion entworfen und verbesserte sie bei jedem gefundenen Fehler. Doch nun hatte sie nur ein paar Minuten, denn der Reserveofen war wesentlich kleiner und auch nur für diesen Wartungsprozess geeignet. Um für einen reibungslosen und dauerhaften Betrieb zu sorgen, musste sie mit beiden Öfen zusammenarbeiten.
Mit einem merkwürdig geformten Brecheisen, eine eigens erfundene Lösung und Hilfsmittel, stemmte sie die schwere Luke des gewaltigen Ofens mit all ihrer eigenen Kraft, unterstützt durch die Hebelwirkung, auf und wich sofort zurück, falls ihr doch noch brennende Überreste entgegenkommen sollten, was trotz seines gedrosselten Betriebes leider keine Seltenheit war. Wie eigentlich alles hier war auch der Ofen Teil eines Prototyps, der hier und da seine Macken hatte. Joana stellte den Karren näher an die Ofenöffnung und stieg auf eine angebaute Metallleiter, um die Kohle aus dem Karren in den Ofen zu laden, wozu sie eine breite Schaufel benutzte, die griffbereit am Ofen stand, angelehnt, als würde sie sich ausruhen und nur darauf warten, dass Joana sie brauchte.
Sie füllte nicht den ganzen Inhalt ihres Karrens in den Ofen. Dieser war schon voll, bevor sie den Karren leeren konnte. Unerlaubt hatte sie den Karren mit mehr, als nur einer Ofenladung gefüllt. Den Rest deckte sie mit einem schmutzigen blauen Tuch ab und hoffte inständig, nicht dabei beobachtet worden zu sein. Ihre Berechnungen diesbezüglich sollten doch stimmen? Immerhin hatte sie sich eingeprägt, wann welcher Mitarbeiter was tat und wann sie vor allem fast ungestört die Kohle holen konnte. Ihr Zeitplan hierfür war eng, doch sie war sich sicher, dass sie ihn eingehalten hatte. Joana verschloss die Luke und stellte den Ofen wieder auf Normalbetrieb. Gleichzeitig wurde dadurch der Reserveofen gedrosselt. Die neue Ladung würde nun für viele Stunden reichen und der Reserveofen würde später von einem der anderen Arbeiter gefüllt werden. Nun war es an der Zeit die Dampfmaschine wieder aus ihrem Schlaf zu holen, indem sie die Dampfzufuhr mit einem Drehrad, welches an der Seite des Ungetüms angebracht war, zu aktivieren. Nur wenige Minuten würde es dauern, bis die Maschine am laufen war. Dann wäre es nicht nur laut, sondern auch wieder einigermaßen hell, wenn der erzeugte Strom für diesen Bereich der Halle wieder in voller Kraft vorhanden war. Als Joana ein Zischen hörte,das immer weiter anschwoll, bis es schließlich seinen Höhepunkt erreichte, war sie zufrieden. Schnell schob sie den Karren zu ihrem eigentlichen Arbeitsplatz: einer riesige Werkbank, an der ein Amboss und ein eigener Schmelzofen angebracht war..
Der brannte schon einige Stunden vor sich hin und hielt das spezielle Metall, dessen Legierung sie selbst schuf, auf eine passende Temperatur. Hier und da musste sie jedoch auf die Werte auf den Anzeigen des Ofens achten. Er durfte nicht zu heiß oder zu kalt werden. Die Luftzufuhr, die sie vor Jahren selbst installiert hatte, war hierfür eine exzellente Hilfe, denn die konnte sie öffnen und schließen, wie es gerade nötig war. Als sie sich unbeobachtet fühlte, zog sie sich ihre ledernen Arbeitshandschuhe aus, griff unter ihre Latzhose und holte ein verstecktes Pergament hervor, welches sie neben ihrer noch immer brennenden Petroleumlampe auf der Werkbank ausbreitete. Das orangefarbene Licht der Laterne, die sie vor Schichtbeginn hier abstellte, offenbarte das Geheimnis des scheinbaren Bauplanes, an dem Joana sich schon länger orientierte. Wochenlang hatte sie an ihm gezeichnet und radiert. Es war vollgekritzelt mit Änderungen der Maße und der Menge der Materialien. Es wirkte wie eine unvollständige Kinderzeichnung, unkenntlich und dennoch entwickeltesich daraus etwas für sie. Sowohl in ihrem Kopf, als auch auf der Werkbank. Oft grübelte sie und neben den Bauteilen, die sie für die Aufträge ihrer Mutter schmiedete, sammelten sich noch andere, die sich optisch sehr von ihnen unterscheiden. Während sie die ihr aufgetragenen Bauteile in einen separaten Karren stapelte, warf sie die ihres heimlichen Projektes in eine von ihr selbst gebaute Ablage. Über dieser prangte ein Schild mit der Aufschrift „Entsorgung“. Niemand würde dies infrage stellen. Man würde vielleicht kopfschüttelnd daran vorbeigehen, dachte sie sich. Immerhin hielt man nicht viel von ihren Arbeiten, da sie unter allen Beschäftigten die einzige Frau war, und diese Ablage füllte sich jeden Tag mit mehr „Schrott“ und somit mit vermeintlichen Fehlschlägen. Doch dem war nicht so. Dessen war sie sich sicher.
Sie stellte fest, dass ihr Metall noch einige Zeit im Ofen erhitzt werden musste, und griff heimlich in ihre Hosentasche, aus der sie einen weißen, rautenförmigen Kristall hervorholte. Mit einem Lächeln strich sie mit einem Finger über die glatte Oberfläche und erkannte einen kurzen Lichtfunken im Inneren. Das war eines der Dinge, die ihre Motivation steigerten. Ihr kleiner Freund war noch da und wartete, so wie sie darum gebeten hatte. Sie hatte ihm ein Versprechen gegeben. Eines, woran sie seit Wochen arbeitete. Alles daran war riskant und es fiel ihr nicht leicht, es zu verheimlichen. Besonders vor ihrer Mutter. Es war waghalsig diesen Kristall zu bergen. Er war noch „unbewohnt“, wo sie ihn aus dem Büro ihrer Mutter stahl, nachdem sie ihn als Teil einer Lösung für ihren Freund gesehen hatte. Sie hörte von Gerüchten, dass diese speziellen Kristalle, wo auch immer sie herkommen mögen, die Seelen von Lebewesen aufnehmen konnten, sofern diese ihre Lebenszeit beendet hatten. So hatte ihr Freund erst mal ein Zuhause für den Übergang. Ihre Mutter hatte unzählige von diesen merkwürdigen Steinen und so würde das Fehlen eines von ihnen nicht auffallen, so hoffte sie. Den anderen Ingenieuren hingegen schon, wenn sie den Kristall bei ihr finden würden. So versteckte sie ihn wieder und zog ihre Handschuhe an.
Das Metall glühte lichterloh, als sie es mit einer Zange aus dem Schmelzofen holte. Schnell lief sie damit zu ihrem Amboss und schlug gezielt mehrmals mit dem Hammer auf die Oberfläche. Funken flogen mit jedem Schlag umher und verschwanden in den Schatten. Sie war sich sicher: Dies war das letzte Teil und dann ist sie fertig. Viel mehr war nicht mehr vonnöten und dann, nach dem Zusammenbau würde ihr Werk endlich vollendet sein, woran sie neben ihren Auftragsarbeiten so lange gearbeitet hatte. Auftragsarbeiten, die dadurch mehr Zeit brauchten. Zumindest die meisten. Wichtige Aufträge erledigte sie priorisiert, um nicht aufzufallen und zum Schluss überprüft zu werden.
Diesmal würde ihre getarnte Ablage nicht so voll werden, wie die letzten Wochen. Es würde nur dieses eine Teil sein, an dem sie schon viele Tage herum tüftelte.
Es brodelte und zischte laut, als sie nach dem letzten Hammerschlag das Metall in ein Ölbad tauchte. Flammen schossen kurzzeitig in die Höhe, ehe sie wieder vom Öl verschlungen wurden. Es war vollbracht! Ihre Gedanken überschlugen sich vor Freude, als sie das Metallstück genauer betrachtete. Sie legte es auf eine hitzebeständige Fläche ihrer Werkbank und betrachtete erneut ihren Bauplan. Eine Ecke war abgeknickt, die sie wieder hervorholte. Dahinter verbarg sich eine lange blaue Feder, die sie liebevoll mit ihren Fingern glattstrich. Sie faltete den Plan sorgfältig zusammen und ließ ihn wieder in ihrer Latzhose verschwinden. Nun war es an der Zeit den „Schrott“ zu entsorgen, dachte sie.
„Wie ich sehe, machst du große Fortschritte.“
Eine Stimme. Hinter ihr! Keiner der Arbeiter sondern ihre eigene Mutter. Vor Schreck drehte sie sich um und nahm eine stramme Körperhaltung ein, ehe sie den Augenkontakt suchte.
„Deine Entsorgungsablage ist heute ungewöhnlich leer. Ich hoffe, dass bleibt in Zukunft so. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist es Verschwendung. Verschwendung wertvoller Materialien und Zeit. Meine Geduld ist begrenzt, auch bei dir, Kind!“
Joana steckte ein riesiger Kloß im Hals. Sie brachte kein Wort heraus. Ihre Mutter kam nur in den äußersten Notfällen aus ihrem Büro. Gab es gerade einen? Hatte sie herausgefunden, was Joana hier trieb? Oder hatte sie ihre Kristalle nun doch abgezählt?
Sie versuchte, all das aus dem strengen Gesicht ihrer Mutter zu lesen, doch sie erkannte weder Wut noch irgendetwas anderes, was auf ihre Vermutungen hindeutete. Was war es dann?
Sie sah nur, wie ihre Mutter ihren Blick an ihr vorbei lenkte. Sie würde es herausfinden, ganz sicher und dann würde Joana Ärger bekommen. Großen Ärger!
„Nun.“ Ihre Mutter sprach einfach weiter. Sie war eine strenge Frau und nur selten wagte es jemand, ihr zu antworten, ohne eine direkte Frage gestellt zu bekommen, „deshalb bin ich nicht hergekommen. Man sagte mir, dass du hervorragende Arbeit leistest. Deine Arbeitszeiten sind lang und du machst viele Überstunden. Durchaus gefällt mir das. Allerdings ist die Menge deiner fertigen Teile nicht so hoch, wie erwartet. Ich habe mir eine Probe zukommen lassen. Deine Fertigungen sind qualitativ die Besten. Ich möchte, dass du mir später deine Formel für die Legierung zukommen lässt.“ Und dann ging sie weiter. Keine Prüfung, keine Untersuchung ihrer Unterlagen. Nichts.
Erleichtert ließ sich Joana auf einen alten Holzschemel nieder und stützte sich an ihrer Werkbank ab. Das war gerade noch mal gut gegangen. Als wäre sie einen Marathon gelaufen, atmete sie schneller. Sie hatte ihren ganzen Körper angespannt und der verlangte nun seine Bezahlung dafür. Es dauerte ein paar Minuten, ehe sie sich wieder aufraffte. Sie sah durch die Gänge, die die Arbeitsplätze voneinander trennten und sah dann auf ihre silberne Taschenuhr, die sie vorne an ihrer Latzhose befestigt hatte. Es war Zeit!
Sie entfernte das Schild mit der Aufschrift „Entsorgung“. Es war im Weg und so oder so falsch. Das letzte Bauteil, welches nun abgekühlt war, legte sie in den Karren. Zumindest versteckte sie es zwischen der Kohle unter dem blauen Stoff. Auf diesen stellte sie ihre Laterne, dessen kleine Flamme sanft am Tänzeln war.
In einem unauffälligen Tempo schob sie den Karren zurück und durch die Metalltür, die sie sorgfältig hinter sich verschlossen hatte. Jeder hatte nach seiner Schicht die Kohlekarren wieder zurückzubringen. Eigentlich in ein separates Lager, doch bevor sie es erreichte, bog sie vorher ab. Der Teil der Mine war jedoch nicht beleuchtet. Die Kupferseile reichten nicht bis hier her, und es wäre so oder so unsinnig. Hier war nie jemand, außer sie. Am Ende des dunklen Ganges war offiziell nichts, nur eine Sackgasse, doch Joana hatte die Tür schon vor Jahren gefunden, verborgen hinter Staub und Dreck, hinter ihr ein längst vergessener Raum – ihr Raum. Mithilfe der Laterne konnte sie auch so durch den Gang gehen, ohne irgendwo anzuecken. Lose Felsen und Steine waren hier oft ein Hindernis, doch die Tür öffnete sie ohne Probleme. Auch diese verschloss sie sorgfältig hinter sich und schob den Karren an die Seite. Sie nahm die Laterne in die Hand und leuchtete sich ihren Weg bis hin zu einem alten Holztisch, auf der einer ihrer wichtigsten Konstruktionen aus einem Metallgestänge und Glas stand. Unter dieser war Platz für die Laterne und das Glas erhellte daraufhin fast den gesamten Raum mit ihrem Licht. Die Schatten wurden vertrieben und zum Vorschein kam ein gewaltiges Ungetüm. Zumindest auf den ersten Blick.
Ein gigantischer Vogel, gebaut aus Metall, stand vor ihr. Grotesk und faszinierend zugleich. Ein majestätisches Wesen oder ein Ungeheuer?
Ein großer Kopf, aus dem ein dekoratives Zahnrad als „Kamm“ ragte, ein langer Schnabel, der mit einem Lederband zugebunden war. Ein langer Hals und ein Körper so groß, wie Joana selbst. Zwei Rohre, die aus dem Rücken an den Seiten nach hinten gebogen waren. Zwei Flügel, deren Handschwingen aus fünf eisernen Klingen bestanden und das metallene Gerüst war mit dunkelbraunem Leder bespannt. Die Flügel stützten den schweren Körper so, dass der Bauch der Bestie für Joana zugänglich war. Dort befand sich ein Ofen. Die Luke stand bereits offen. Sie schob den Karren heran und begann mit bloßer Hand die restliche Kohle in den Vogel zu füllen. Anschließend nahm sie das letzte Bauteil und setzte es im Ofen ein. Eine Art Regler, den sie selbst entworfen hatte und mit einigen anderen Teilen im Inneren verbunden hatte. Letztendlich schloss sie die Luke und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das wäre erledigt.
Sie lief zum Tisch und kramte eine Liste hervor. Eine, auf der sie einen Haken setzte. Das wäre alles, dachte sie. Neben der Liste lag ein selbst gemaltes Bild. Darauf zusehen war ein blauer Vogel. Freudig nahm sie es in die Hand und hielt es zum Vergleich neben ihr monströses Bauwerk. Das einzige was beide gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass es sich um einen Vogel handelte. Doch für Joana war es mehr.
Ein kleiner blauer Vogel. Ein Blauhäher, der in ihrem Garten weit oberhalb der Minen abgestürzt war. Sein Flügel war gebrochen gewesen. Sie hatte ihn gefunden und hatte ihre Mutter um Erlaubnis gefragt ihn aufzunehmen. So baute sie einen Käfig und besorgte Futter, um das kleine Wesen am Leben zu erhalten.
„Ich werde dich gesund machen. Du wirst bald wieder fliegen können, das verspreche ich dir hoch und heilig!“
Allerdings wurde die Verletzung schlimmer und heilte kaum bis gar nicht. Sie nahm den Vogel in das Büro ihrer Mutter, um nach Hilfe zu fragen. Doch sie war nicht da und der Vogel verstarb vor Ort. Unter Tränen öffnete sie den Käfig und nahm das Tier sanft in ihre Hand. Im Augenwinkel leuchtete etwas. Ein Kristall, der ihre Aufmerksamkeit sofort zu sich lenkte. Sie erinnerte sich noch an die Geisterkristalle ihrer Mutter. Zwar wusste sie nicht, wofür sie sie hatte, aber scheinbar war die Geschichte über sie wahr. Als sie sich den Stein nahm und an ihr Ohr hielt, glaubte sie sogar das liebevolle Zwitschern ihres kleinen Freundes zu hören. Da war ihr eine Idee gekommen, wie sie ihr Versprechen doch noch einhalten könnte.
Joana holte den Kristall aus ihrer Hosentasche und setze ihn in die Fassung, die sie speziell dafür an den Eisenvogel angebracht hatte. Sofort verband sich dieser mit seinem neuen „Körper“, und ein Rauschen war zu hören. Gleichmäßig, ruhig und sanft. Doch nach weiteren Sekunden wurde es unregelmäßiger, stockend.
„Kein Problem. Diesmal wird es funktionieren. Da bin ich mir sicher!“
Sie betätigte den Zünder neben der Ofenluke, und ein Funke entstand, der in das Kohlebad eintauchte. Sofort brannte es im Inneren des Ofens, das Rauschen wurde erst hektischer und dann wieder ruhiger. Mit jedem Mal loderte das Feuer ein wenig heller, so als würde das Ungetüm atmen. Einatmen durch den Ofen und wieder durch die Rohre am Rücken aus. Der schwarze Qualm hüllte fast den gesamten Raum mit jedem Ausatmen in einen dichten, dunklen Nebel, der ein Gefühl von unfassbarem Übermut und Freude in Joana aufkommen ließ.
„Ja! Sehr gut. Endlich! Es ist alles stabil. Selbst der Druck ist perfekt!“ Ihr Lächeln wurde breiter, und sie klatschte mehrmals in die Hände. So kommunizierte sie mit dem Vogel und lobte ihn.
Doch irgendetwas störte sie. Sie dachte an die blaue Feder, überhaupt an das einst leuchtend blaue Gefieder und die kleine blaue Federhaube, die er ab und an aufgestellt hatte. Sie drehte sich zum Karren um und holte die blaue Decke hervor, die sie daraufhin zerriss. Vorsichtig näherte sie sich dem „lebenden“ Wesen und befestigte das Tuch an seinem Kopf, über dem Zahnrad-Kamm.
„Sehr gut! Nun zum Funktionstest.“
Ein Test, vor dem sie sich nach wie vor fürchtete. Die Gesetze der Physik würden ihr keinen Erfolg erlauben. Es wäre zu absurd zu denken, dass es funktionieren würde. Der Vogel wog mehrere Tonnen. Doch die Magie des Kristalls schätzte sie anders ein.
Wieder klatschte sie in die Hände und wartete, was passierte. Der Vogel „schnaubte“ durch den Ofen und breitete tatsächlich seine riesigen Flügel aus. Er stabilisierte seine Position mit seinen eisernen Klauen und begann, mit den Flügeln zu schlagen. Immer kräftiger, immer schneller und tatsächlich hob er vom Boden ab. Wenige Zentimeter nur, aber er berührte den Boden nicht mehr.
„Ja! Es funktioniert tatsächlich! Oh! Das ist ein Durchbruch! Das ist Wahnsinn! Unvorstellbar und dennoch machbar! Irgendwie, aber es geht! Was man damit noch alles machen könnte!“
Sie war aufgeregt, ihre Gedanken drehten sich. Um ihnen zu folgen, begann sie selbst, im Kreis zu laufen.
Der Vogel landete und schien sich ebenso zu freuen. Zumindest leitete Joana das von seinen Bewegungen ab.
„Ich habe es dir versprochen, Blue-Jay und ich halte meine Versprechen! Wir werden noch an deiner Mobilität arbeiten. Deine Flügel müssen noch justiert werden und…“
Sie blieb stehen, wie eingefroren. Ihr fiel die plötzlich offene Tür auf und ihr Blick blieb an ihrer Mutter haften. Joana erstarrte, ihr wurde übel. Alles blieb auf einmal stehen. Es war vorbei.
Endgültig. Für alle, dachte sie. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie da schon stand. Wieso hatte sie die Tür nicht gehört. Doch selbst wenn, was hätte sie da noch retten können?
Nun wusste sie es, und Joana würde ihre Strafe bekommen.
Ihre Mutter stand da und starrte den Vogel an. So hatte Joana sie noch nie gesehen. Das würde nichts Gutes bedeuten.
Dann sah sie ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ein Lächeln, das Joana kannte, und das nichts Gutes verhieß. Sie wusste, was es bedeuten würde, mehr Arbeit, Leid und Finsternis.
Joana bemerkte, wie das Lächeln ihrer Mutter immer breiter wurde und sie zu allem Überfluss langsam zu ihr sah. Jetzt! Jetzt würde das Lächeln versiegen und sie würde toben. Soviel stand fest.
Doch das Lächeln blieb. Es verängstige sie. Selbst der Vogel wich zurück. Instinktiv stellte sich Joana vor ihn, doch ihre zitternden Arme und Beine verrieten ihre Schwäche.
„Faszinierend! Wahnsinn! Ja! In der Tat. Du hast hier gerade eine Lösung für mein lästiges Problem gefunden! Dir ist das gelungen, woran ich so lange erfolglos gearbeitet habe!“
Nein. Sie wollte gar nicht wissen, was das genau war. Sie wollte nichts mit den düsteren Geschäften ihrer Mutter zu tun haben. Sie wollte lediglich ein Versprechen einhalten. Eines, das sie einem sehr guten Freund gegeben hatte. Dem kleinen Blauhäher, den sie retten wollte, aber nun daran gescheitert war.

